Eine zweite Revolution in Tunesien?

Tunesien hat mit allergrösster Wahrscheinlichkeit einen neuen Präsidenten. Er heisst Kais Sayed, wirkt streng und abweisend und war bis vor kurzem kaum bekannt. Sein Charisma tendiert gegen Null, und für seine Kampagne hat er kaum Ausgaben getätigt. Seine Wahl ist eine Ohrfeige gegenüber der ganzen „Classe politique“, die sich vor allem mit sicher selber beschäftigt hat. Vor allem junge Wählerinnen und Wähler und Menschen aus dem vernachlässigten Hinterland haben Sayed gewählt. Sie sahen in dem zweifellos aufrichtigen und integren Verfassungsjuristen eine Hoffnung auf eine Veränderung, ja auf eine zweite „Revolution“. 

Doch wird der neue Präsident mit seinen beschränkten Machtbefugnissen eine „zweite Revolution“ verwirklichen können? Was meint er damit überhaupt? Sein gesellschaftliches Projekt ist bis dato äusserst vage geblieben. Klar ist bloss, dass die neue Regierung wie auch Kais Sayed sich auf die Islamisten der Ennahda und weitere, durchaus radikalere Gruppierungen abstützen muss, um Mehrheiten zu gewinnen und eine „neue“ Politik umsetzen zu können. Das weckt Befürchtungen, das bezüglich der individuellen Freiheitsrechte in den kommenden Jahren Einschränkungen zu erwarten sind. „Adieu les libertés, adieu le progressime, adieu la presse indépendante“, schreibt etwa Nizar Bahloul im untenstehenden Artikel. Noch düsterer der Schriftsteller und Dramaturg Mohamed Kacimi in einem Beitrag mit dem Titel: „Tunisie, chronique d’un désastre annoncé.“

Für das säkulare und linksliberale Lager ist die Wahl von Sayed eine Katastrophe. Sie müssen über die Bücher gehen, sich sehr gut überlegen, wie sie die von fast neun Jahren postrevolutionären Erschütterungen verarmten und verunsicherten Volksmassen von ihrem Projekt einen säkularen, fortschrittlichen und demokratischen Tunesiens überzeugen können.

https://www.businessnews.com.tn/avec-kais-saied-les-islamistes-jouent-sur-du-velours,523,91884,3