Ganz unten

Cissoko wieder getroffen. Ein Migrant aus dem senegalesischen Hinterland, Gross, hager, freundlicher Blick. Ich habe ihn in meinem Buch porträtiert. Wir treffen uns in der Altstadt von Rabat, plaudern ein wenig, gehen gemeinsam Mittag essen.

Was er berichtet, ist weder spektakulär noch neu; ganz einfach das triste Schicksal eines afrikanischen Migranten, der auf dem Weg nach Europa in Marokko gestrandet ist und es bis anhin nicht geschafft hat, das Mittelmeer zu überqueren. Ein prekärer Alltag, geprägt von bitterer Armut, von der Angst, aufgegriffen zu werden, von Ausbeutung durch lokale Arbeitgeber, auch von Misstrauen gegenüber eigenen Landsleuten. So hat Cissoko einem Landmann, der ihm in Aussicht gestellt hat, die Ausreise zu organisieren, 3000 Dirhams bezahlt. Der aber hat sich nicht mehr blicken lassen. «Seit fast drei Jahren leben ich jetzt in Marokko, sagt Cissoko, doch meiner Frau und den drei kleinen Kindern habe ich kein einziges Mal Geld überweisen können.»

In der Nähe von Rabat teilt er ein einfaches Appartement mit einer Handvoll anderer Migranten. Im selben Haus leben auch Gambier und Kameruner in Hausgemeinschaften von. 300 Dirhams hat er monatlich dafür zu bezahlen. Doch auch hier lauert Gefahr, nachdem sich der offizielle Mieter, der die Wohnung an die jungen Afrikaner untervermietet, aus dem Staub gemacht hat.

Er schlafe schlecht und habe oft Albträume, berichtet Cissoko. Seine Familie fehle ihm. Doch eigentlich fehlt es ihm an allem: An medizinischer Versorgung. An Privatsphäre. An Perspektiven.

Kürzlich war Cissoko krank. Das Schleppen von schweren Zementsäcken in den dritten Stock einer Baustelle habe ihn kaputt gemacht, erzählt er. Tagelang lag er auf seiner Matratze und überlegte hin und her, ob er nicht besser doch zurückkehren sollte. Doch dafür fehlt das Geld. Und da ist der Gesichtsverlust gegenüber der eigenen Familie.

Cissoko bedankt sich überschwänglich für das Mittagessen und die paar Geldscheine, die ich ihm zustecke. Für ihn ist es der Lohn einer Woche Arbeit, für mich ein Mittagessen in der Schweiz. Doch das Dilemma ist kaum zu lösen: Tue ich mehr, so wird er sich mit aller Kraft an mich klammern, weil er in mir ein einen Wohltäter, ja ein Geschenk Gottes sieht. Gebe ich nichts, so bin ich hart und gefühlslos. Seine Situation aber kann ich definitiv nicht zum Guten wenden; es sei denn, ich würde ihm den Schlepper oder die Rückkehr in den Senegal bezahlen.

«Gott sei Dank lebe ich noch», sagt Cissoko einmal beiläufig. Das ist auch eine Perspektive; die eines ausgebeuteten, geschundenen Migranten. Ganz unten, hätte Wallraff wohl gesagt.

(Wildes Camp von Migranten in der Nähe von Tanger, ©BST)