Ohne den robusten Schutz der gemeinsamen Aussengrenzen dürfte die irreguläre Migration nach Europa noch stärker ansteigen als bis anhin. Doch die EU verfügt über kein Konzept, wie sich Grenzschutz und völkerrechtliche Verpflichtungen unter einen Hut bringen lassen.
Stolpert Europa schon bald in eine neue Migrationskrise, vergleichbar mit jener im Sommer 2015? Vieles spricht dafür. Doch in der EU scheint das Bewusstsein für den Ernst der Lage gering zu sein. Die Mitgliedstaaten schauen in erster Linie für sich, verzichten häufig auf die Registrierung illegal Eingereister oder winken diese einfach durch. Eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik ist nicht einmal in Ansätzen zu erkennen. Das ist sehr riskant. Denn alles weist darauf hin, dass die illegale Migration in den kommenden Monaten massiv ansteigen wird.
Die Gründe liegen in der deutlichen Verschlechterung der Lage allein schon in den meisten Staaten im Süden und im Osten des Mittelmeers. Tunesien ist in eine noch nie gesehene Krise geraten und taumelt am Rand des Abgrunds. Libyen ist instabiler denn je. Libanon steht kurz vor dem Staatsbankrott, in Syrien herrscht Hunger. Auch die Menschen in Ägypten und in der Türkei leiden unter einer enormen Wirtschaftskrise, und vielen syrischen Flüchtlingen in den Nachbarländern droht die Rückschaffung. Alle diese Faktoren werden zweifellos massive Migrationsbewegungen in Richtung Europa auslösen.
Doch auch in den Ländern, die noch als vergleichsweise stabil gelten können – etwa Marokko –, ist der Migrationsdruck so hoch wie nie zuvor. Laut einer neuen Studie des unabhängigen Forschungsnetzwerks Arab Barometer wollen zwischen 30 und 65 Prozent der jungen Menschen in arabischen Staaten auswandern. Gleichzeitig ist das Migrationsabkommen zwischen der EU und der Türkei faktisch ausser Kraft gesetzt. Wenn es Erdogan passt, kann er ohne weiteres erneut eine grosse Zahl von Flüchtlingen, die in der Türkei Schutz gefunden haben, in Richtung Europa weiterziehen lassen. (…)
https://www.nzz.ch/meinung/noch-immer-nichts-gelernt-europa-und-die-immigration-ld.1721470