Tunesien verfolgte seit der Unabhängigkeit eine pragmatische, gemässigte Politik und orientierte sich in Richtung Europa. Doch nun sitzt ein verbissener Ideologe an den Schalthebeln der Macht. Das ist höchst riskant – für Tunesien, aber auch für den Westen.
Tunesien, dem einstigen Musterland des Maghreb, geht es schlecht. Viele Beobachter sehen Tunesien am Rande des Abgrunds. Wirtschaftlich stehen alle Zeichen auf Sturm: Die Inflation ist in kaum je gesehene Höhe geschnellt, der Kaufkraftverlust der einfachen Menschen hat dramatische Ausmasse angenommen, ebenso die Staatsverschuldung. Die Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds, dringend nötig, um das laufende Budget zu finanzieren und vor allem die Löhne der rund 660 000 Staatsbeamten zu bezahlen, kommen nicht vom Fleck. Die Arbeitslosigkeit der Jungen ist so hoch wie nie zuvor.
Höchst angespannt ist auch die politische Lage. Zwar ist es Präsident Kais Saied gelungen, die neue Verfassung in einem Referendum durchzubringen – bei einer Stimmbeteiligung von weniger als 30 Prozent. Doch mittlerweile hat der Präsident mit seinem autokratischen Vorgehen nicht nur die allermeisten politischen Parteien, sondern auch die Zivilgesellschaft und die wirtschaftliche Elite gegen sich aufgebracht. Das Land ist heute tief gespalten, und bei all seinen weiteren Vorhaben wird sich Saied mit einer breiten Front der Ablehnung konfrontiert sehen.
Selbst Polizisten wollen weg
Die Stimmung im Land hat einen absoluten Tiefpunkt erreicht. Manche sprechen von einer kollektiven Depression, die Tunesien erfasst hat. Insbesondere die Jungen sehen absolut keine Perspektive mehr und wollen weg. Es sind nicht nur die Arbeitslosen, Marginalisierten und Chancenlosen aus dem vernachlässigten Hinterland und den armen Vorstädten. Nun verlassen auch Lehrerinnen und einfache Staatsbeamte, Frauen mit Kleinkindern, ganze Familien, vereinzelt sogar Polizisten und Bürgermeister das Land. Die meisten von ihnen haben nur die Wahl, mithilfe eines Schleppers den gefährlichen Weg über das Mittelmeer anzutreten. Bis zu tausend Personen sind in den vergangenen Wochen täglich illegal nach Italien emigriert.
Doch weshalb ist ausgerechnet Tunesien, das einstige Vorzeigeland des Maghreb und hinsichtlich Demokratisierung ein Leuchtturm in der arabischen Welt, in diese prekäre Lage geraten? Es lohnt sich, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, um die Verwerfungen der Gegenwart zu verstehen. (…)
Foto: Alltagsszene im tunesischen Hinterland, ©BST
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