Der Retter Tunesiens?

Kais Sayed hat sich selber ermächtigt, das Schicksal des Landes in seine Hand zu nehmen. Verfassungsrechtlich bewegt er sich auf dünnem Eis. Aber eine grosse Mehrheit der Menschen in Tunesien begrüssen den Schritt ihres Präsidenten. Sie sehen in ihm den Retter des Landes erhoffen sich endlich Gerechtigkeit und eine neue Dynamik in einer vollkommen verfahrenen Situation.

Der Mann wirkt spröd, steif, formell. Seine Haut ist sehr hell, fast käsig-weiss, seine Zähne wirken ungepflegt, die weissen Haare und eine Halbglatze lassen sogleich erkennen, dass er sich im Pensionsalter befindet. Sein Gesichtsausdruck wirkt maskenhaft, und nur höchst selten lässt er sich ein Lächeln entlocken. Auch seine Sprache wirkt leicht roboterhaft. «Robocop» – nach einem amerikanischen Science-Fiction-Film aus dem Jahr 1987 – wird Kais Sayed seit seiner Kandidatur für das Präsidentenamt vor rund zwei Jahren halb liebenswürdig, halb verächtlich genannt. Manche bezeichnen ihn auch als «Extraterrestrischen». Wüsste man nicht, dass Sayed aus Tunesien stammt, würde man ihn vom Typ her einem nordeuropäischen Land zuordnen. Auf jeden Fall verkörpert er ganz und gar nicht die mediterrane Ausstrahlung und die Lebensfreude, für die das Land stets bekannt war.

Dass eine grosse, sehr grosse Mehrheit der tunesischen Bevölkerung – glaubt man den jüngsten Umfragen, so sind es 87 % -, diesem spröden Herrn nicht nur Vertrauen schenkt, sondern ihm gar zujubelt, erscheint wie ein Wunder. Es dürfte damit zusammenhängen, dass man in Tunesien mehr als genug hat von eitlen Selbstdarstellern, von mafiösen, schmierigen Geschäftsleuten, die sich in der Politik versuchen, von Tugendpredigern, die sich längst mit Vertretern des alten «Systems» arrangiert haben und selber tüchtig absahnen. Denn das Land steht am Rande des Abgrunds, die Korruption hat längst schwindelerregende Ausmasse angenommen, und der breiten Bevölkerung geht es schlechter denn je.

Doch wer ist Kais Sayed wirklich? Welche persönlichen Eigenschaften haben ihn zum «Mann der Stunde» werden lassen? Was treibt ihn an, und wie ist er politisch einzuordnen? Antworten lassen sich nicht einfach finden, und vieles bleibt diffus. Denn Sayed war bis zu seiner Kandidatur in der breiten Öffentlichkeit beinahe unbekannt. Er unterrichtete bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2018 an der Universität von Tunis Verfassungsrecht und wirkte in einigen akademischen Kommissionen mit. Seine Studierenden beschreiben ihn als zugänglichen, engagierten Dozenten. Er sei allerdings kein brillanter Jurist gewesen, urteilt ein Kenner der Materie. Ebenso wenig ist Sayed ein Redner, der frei sprechen und die Massen begeistern kann. (mehr in der NZZaS vom 1.8.2021)

Foto: ©AFP/Der Standard.at

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