Mahatah

«MAHATAH – Side Stories from Main Stations» heisst der neue Film von Sandra Gysi und Ahmed Abdel Mohsen. Die beiden Hauptbahnhöfe liegen in Zürich und in Kairo. «Der Film taucht ein in dieses Universum, in dem fast unbemerkt Menschen Treppen schrubben, Zugkompositionen erstellen, für Sicherheit sorgen und Tickets verkaufen – oder Kebab», heisst es in der Synopsis. Damit halten diese von den Reisenden oft kaum beachteten Menschen die zentralen Bahnknotenpunkte in Kairo und Zürich am Laufen. «Sie heissen Wala, Marina, Raimundo und beleben mit Passion ihren Bahnhof, ihren kleinen Kosmos, ob in der Schweiz oder in Ägypten».Es war ein doppeltes Risiko, die beiden grossen Bahnhöfe von Zürich und Kairo in einem Film einander gegenüber zu stellen. Zum einen, so berichtet die Produzentin des Films, Franziska Reck, war es extrem schwierig, in Kairo eine Drehgenehmigung im Bahnhofsareal zu erhalten. Die Filmcrew sei ab und zu kurz davorgestanden, das ganze Projekt abzublasen. Zum andern das Risiko, mit dem Film Klischees zu bedienen. Hier einer der modernsten und am besten organisierten Bahnhöfe Europas, der wie eine gigantische Maschinerie funktioniert, dort der noch aus der Kolonialzeit stammende Bahnhof Kairos, dessen technische Infrastruktur jeden internationalen Verkehrsexperten an den Rand des Nervenzusammenbruchs führen dürfte. «Es kann jederzeit etwas passieren“, sagt der Chef des zentralen Stellwerks im Film sinngemäss. «Doch dank Allahs Hilfe bewältigen wir all die Problem fast immer». Ein Fatalismus, der ein europäisches Publikum wohl leer schlucken lässt. Und alle möglichen Vorurteilen Nahrung geben könnte: Hier der fast hygienisch saubere Zürich HB, dort die chaotische «Cairo Main Station» mit ihren verbogenen Geleisen, den uralten Stellwerken, dem Rollmaterial aus der Mitte des letzten Jahrhunderts.Doch es ist den beiden Regisseuren gelungen, dieser Falle zu entgehen. In Ihrem Film zeigen sie vielmehr auf, wie sich in beiden Bahnhöfen ähnliche Probleme stellen und wie unzählige Menschen hinter den Kulissen dafür sorgen, dass der Betrieb mehr oder weniger reibungslos funktioniert. Dabei ergeben sich unerwartete und oft auch berührende Einblicke in den Alltag all dieser Menschen, sei es in Kairo oder in Zürich. Etwa über die Arbeit von Wala in Kairo, die eine ganze Brigade männlicher Reinigungsfachkräfte kommandiert. Oder über die kleinen und grösseren Probleme, mit denen die Sicherheitsbeamtin Marina im Zürich fast täglich konfrontiert ist. Das Klischee: Hier perfekt organisiert, aber menschlich kalt – dort chaotisch, aber lebendig und warmherzig läuft so in die Leere. Das unglaubliche Wohlstandsgefälle zwischen den beiden Städten bleibt dennoch spürbar – und dürfte das Publikum im besten Fall zum Nachdenken anregen.Sandra Gysi und Ahmed Abdel Mohsen haben einen Film gedreht, der auch ihre Lebenssituation spiegelt: Während Sandra Gysi aus Aarau stammt, ist Ahmed Abdel Mohsen in Assuan geboren. «Wir sind quasi die A-A Achse», sagt Sandra schmunzelnd. Beide haben in Zürich unter anderem Film studiert. Heute pendeln Gysi und Abdel Mohsen zwischen Ägypten und Zürich; eine privilegierte Migrantin, ein privilegierter Migrant, die beide Wohnsitz und Arbeitsumfeld selber wählen können. Ich kenne Sandra und Ahmed persönlich und habe auch eines von ihnen in die Wege geleiteten Kulturprojekte in Sudan («Karmakol») besuchen können. Einen persönlichen Bezug habe ich auch zur Produzentin, Franziska Reck – wir kennen uns seit langen Jahren. Dass sie den Mut hatte, in dieser für die Filmbranche schwierigen Zeit einen solchen Dokumentarfilm zu produzieren – von der Covid-Pandemie ganz zu schweigen – hat mich sehr beeindruckt.«Bahnhöfe sind Mikrokosmen, die Menschen aus allen sozialen Schichten Zugang gewähren. Es sind öffentliche Räume, die sich dennoch in einer gewissen Geschlossenheit präsentieren», schreiben Gysi und Abdel Mohsen. Doch in der Begrenztheit ihrer örtlichen Ausdehnung klinge dennoch stets «das Echo der gesamten Welt». Man kann dies so sehen und in MAHATAH ein Sinnbild für grössere Zusammenhänge erblicken. Das Publikum kann sich aber auch einfach in den Bann der Bilder, dieser «side stories» aus den beiden Bahnhöfen ziehen lassen.Der Film sei unpolitisch, war an der Pressevorführung als kritischer Einwand zu hören. Doch muss er das wirklich sein? MAHATAH vermittelt auf einfühlsame und leichtfüssige Weise Einblicke in ganz unterschiedliche Lebenswelten. Er ist sehenswert. Es ist der Produzentin und den beiden Regisseuren zu wünschen, dass sie mit ihrem Film ein Publikum erreichen können, das sich für Themen aus Ländern des Südens ansonsten kaum interessiert.

http://www.reckfilm.ch/de/filme/released/mahatah/

https://vimeo.com/576719474

Vorpremièren u.a. in Brugg (8.9.), Luzern (10.9.), Zürich (11.9.), Kinostart am 15.9.2022