Nur weg von hier!

Den Moment, als mir ein italienischer Beamter in Trapani ein Formular überreichte, werde ich nie mehr vergessen. Zuerst hatte ich Angst, dass ich ausgewiesen würde. Doch als er mich aufforderte, das Büro zu verlassen, überkam mich eine unbeschreibliche Freude. Ich war in Europa, und ich war frei! Auf diesem Moment hatte ich Jahre gewartet. Erst später erfuhr ich von anderen Tunesiern, was auf diesem Papier stand: Dass ich Italien innert sieben Tagen zu verlassen hätte. Doch sie beruhigten mich sogleich: Das bedeute nichts, und die meisten tunesischen Migranten erhielten einen solchen Ausweisungsbescheid.Sofort machte ich mich auf den Weg nach Mazzara del Vallo. Dort traf ich problemlos andere Tunesier, die mich ein paar Tage bei sich aufnahmen. Ich rief meinen Cousin in Novara an. Er schickte mir Geld, um per Bus nach Novara zu reisen. Das klappte gut, obwohl ich nur ein paar Worte Italienisch spreche.Meine Ausreise nach Europa habe ich seit langem geplant. Schon kurz nach der Revolution von 2011 war für mich klar, dass ich in diesem Land keine Zukunft habe. Damals bin ich, wie die meisten Jungen, auf die Strasse gegangen und habe gegen Ben Ali und für Arbeit und Würde demonstriert. Doch unser Leben hat sich nicht verbessert, im Gegenteil. Als Kais Sayed im Herbst 2019 zum Präsidenten gewählt wurde, hatte ich wieder etwas Hoffnung. Doch wir Jungen wurden erneut enttäuscht. Dem Land geht es heute schlechter als je zuvor. Ich glaube nicht, dass Kais Sayed dafür verantwortlich ist. Er will korrupte Politiker ins Gefängnis stecken, er will, dass es dem Volk besser geht. Doch seine Gegner sind einfach zu mächtig. Seit Jahren spare ich für die «Harga», die irreguläre Ausreise. Ein Schlepper verlangt für eine Überfahrt auf einem Boot mit starkem Motor mindestens 2’000 Euro. Das ist in Tunesien viel Geld. Ein erstes Mal habe ich es 2018 versucht, doch die tunesische Küstenwache hat uns wenige Kilometer vor der Küste aufgehalten und zurückgeführt. Das war ein harter Schlag. Auch ein zweiter Versuch scheiterte. Ich drehte fast durch. Nach der Pandemie bat ich meinen Vater, ein Stück Land zu verkaufen, um mir die Ausreise zu ermöglichen. Er war einverstanden, weil er hoffte, dass ich der Familie regelmässig Geld aus Italien schicken werde. Doch auch mein Bruder wollte gehen. Mein Vater hat dann entschieden, dass ich als Erster ausreisen darf. Als meine Freunde davon erfuhren, gratulierten sie mir. «Du Glückspilz», sagten sie zu mir, «Du kannst weg von hier!» Alle Jungen meiner Generation träumen davon, Tunesien zu verlassen und nach Italien zu emigrieren. Die meisten wissen allerdings nichts von den Gefahren der Reise übers Meer. Wenn es möglich wäre, würden alle jungen Tunesier weg von hier. Alle, alle! (Weiter in der NZZaS)

©Beat Stauffer

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