Transitland Schweiz

Zunehmend reisen Flüchtlinge aus Italien durch die Schweiz. Die Behörden lassen die meisten passieren, nur wenige werden zurückgeschickt. Das zeigt ein Augenschein vor Ort. Von Beat Stauffer  

Youssef ist 27 Jahre alt und stammt aus Marokko. Nach der Überfahrt von Tunesien nach Sizilien ist er durch ganz Italien und anschliessend durch die Schweiz gereist. Nun ist er in Basel gestrandet. In einem Café im Stadtzentrum von Basel trifft er auf einen Landsmann. Er bittet ihn um finanzielle Unterstützung und um Tipps, um unkontrolliert nach Frankreich ­ausreisen zu können. Dabei erzählt er von seiner Reise durch Italien und die Schweiz.

Die Fahrt mit den italienischen Staatsbahnen bis nach Mailand sei vollkommen ­unproblematisch gewesen, berichtet Youssef. Er sei ohne Ticket durch ganz Italien gereist; die Zugbegleiter hätten ihn nie behelligt. In Mailand seien sie sogleich von unbekannten Personen auf Arabisch angesprochen worden. «Sie haben uns eine ganze Auswahl an Reisemöglichkeiten vorgeschlagen», sagt Youssef. «In Privatautos auf der Autobahn oder über kleine Grenzübergänge, mittels Kleinlastwagen, via Intercity, betreut durch einen ‹Begleiter›, der den Weg kennt, oder mit einem Regionalzug.» Jedes Angebot habe seinen Preis; ein «Package» bis nach Mulhouse oder nach Süddeutschland sei auch verfügbar gewesen. Youssef entscheidet sich für das günstigste Angebot und reist mit einem gültigen Zugticket in Richtung Norden.

Ohne Kontrolle über die Grenze

Youssef ist einer von vielen. Zurzeit versuchen Zehntausende junger Männer aus dem Maghreb, aus Ägypten, Bangladesh und aus Ländern südlich der Sahara, von Norditalien aus via die Schweiz nach Deutschland oder Frankreich zu gelangen. Fast alle sind in Tunesien oder in Libyen auf Boote gestiegen und zwischen Ende August und Anfang November in Süditalien angekommen. Auf der zentralen Mittelmeerroute (siehe Kasten) ist Hochsaison; bis zu 1000 Personen haben in den vergangenen Wochen täglich versucht, auf diesem Weg nach Europa zu gelangen. Vielen gelingt die Überfahrt; andere werden von der tunesischen Küstenwache aufgehalten. So hinderten etwa am 9. November die Küstenwächter fast 800 Personen auf 17 Booten an der Ausreise. Rund 90000 Migranten und Flüchtende sind bis Mitte November 2022 auf dem Seeweg in Italien angekommen.

Entsprechend nimmt auch der Druck auf die Schweizer Südgrenze zu. In den vergangenen Monaten ist dort die Zahl der «gesetzeswidrigen» Einreisen stark angestiegen. Laut Bundesamt für Grenzsicherheit wurden im Juli 537 Personen aufgegriffen, im Oktober waren es 2435 – also fast fünfmal so viele. Und die Dunkelziffer dürfte noch einmal so hoch sein, wie Augenzeugen berichten.

Auch Youssef gelingt es, die Schweizer Grenze ohne Kontrolle zu passieren. Andere haben weniger Glück.

Chiasso, 9. November. Grenzwächter steigen in den Eurocity 318 aus Mailand, der um 13 Uhr 58 in Chiasso ankommt. Kurze Zeit ­später führen sie acht junge Männer aus dem Zug; ihrem Aussehen nach stammen sie aus Afghanistan oder Nachbarstaaten. Dem Journalisten ist es nicht gestattet, mit den Grenzwächtern oder mit den Geflüchteten zu sprechen. Diese werden zuerst in den kleinen, geschützten Warteraum auf dem Perron geführt. Wenige Minuten später verlassen sie den Bahnsteig und ­begeben sich, eskortiert von den Beamten, in die Räumlichkeiten der Grenzwache. Dann herrscht wieder eine gespenstische Ruhe auf dem weiten Bahnhofsareal von Chiasso (…)

https://magazin.nzz.ch/empfehlungen/migration-die-sued-nord-route-ist-weit-offen-ld.1713100