Mit meinem Kommentar über die Auswirkungen des Gazakriegs auf Tunesien und auf den Maghreb habe ich mich sehr schwer getan. Als Journalist, der den Maghreb seit rund 40 Jahren regelmässig bereist, habe ich selbstverständlich Sympathien für die arabische Welt und kann auch viele Forderungen, die zurzeit auf den Strassen zu hören sind, nachvollziehen – etwa den Stopp des Siedlungsbau im Westjordanland. Gleichzeitig scheint mir die Instrumentalisierung des Palästina-Konflikts offensichtlich. Und die Haltung der meisten arabischen Staaten ist voller Widersprüche. So setzen sich Präsidenten und Könige mit dem syrischen Herrscher Baschar al-Asad wieder an einen Tisch, als hätte es in Syrien keinen Krieg und keine Massenflucht gegeben. Das sei eben ein interner Konflikt, sagte mir ein Gesprächspartner, und in dem Sinn nicht mit dem Palästina-Konflikt zu vergleichen. – Nun, ich habe meine Eindrücke aus Tunesien aufs Papier gebracht. Hier der Beginn des Kommentars: „Am späten Abend des 24. Oktobers geht ein hagerer, bleicher Mann durch die Strassen von Mnihla, einem einfachen Vorstadtquartier von Tunis. Er trägt Anzug und Krawatte und ist umgeben von Personenschützern. Der Mann schüttelt Hände, erkundigt sich in einer Bäckerei, ob noch genügend Baguettes vorhanden seien, wechselt ein paar Worte mit Quartierbewohnern.Dann äussert er sich zum Krieg in Gaza. Mit heiserer, sich überschlagender Stimme hält er eine Brandrede gegen das «zionistische Gebilde» und dessen Krieg gegen die Hamas und ruft zur Befreiung Palästinas auf. «Eine Kapitulation werden wir nicht akzeptieren», schreit der Mann in die Menge. «Entweder gewinnen wir, oder wir werden zu Märtyrern! In Tunesien gibt es keinen Platz für Verräter und Agenten.»Es ist der tunesische Staatspräsident Kais Saied, der auf solche Weise die Massen anfeuert. Doch befindet sich Tunesien wirklich im Krieg? Liegen nicht mehr als 2000 Kilometer zwischen Tunis und Gaza? Wie will sich Tunesien, das sich selber in der schwersten Krise seit der Erlangung der Unabhängigkeit befindet, an der Befreiung von Palästina beteiligen? Und vor allem: Was bedeutet es, zu «Märtyrern» zu werden?Die Brandrede des tunesischen Präsidenten ist – zumindest aus westlicher Sicht – in höchstem Mass beunruhigend. Während die Staatschefs der anderen arabischen Staaten eine gewisse Zurückhaltung walten lassen und mit allen Mitteln versuchen, die hochgehenden Emotionen auf der Strasse zu dämpfen, scheint Saied alles daranzusetzen, diese Wut zusätzlich anzustacheln.Die Wut ist so stark, dass eine vernünftige, distanzierte Analyse des Geschehens kaum mehr möglich ist.Die Stimmung im Land ist seit dem Ausbruch des Gaza-Kriegs extrem angespannt. Auf dem Prachtsboulevard im Stadtzentrum, der Avenue Habib Bourguiba, fanden noch bis vor kurzem täglich grosse Demonstrationen statt. Vor der schwer bewachten französischen Botschaft skandierten Menschen Frankreich-feindliche Parolen und forderten die Ausweisung des Botschafters. Im Parlament wurde zudem hitzig über ein neues Gesetz debattiert, das alle Beziehungen zu Israel mit Hochverrat gleichsetzen sollte.In ganz Tunesien solidarisierten sich Kulturschaffende mit dem palästinensischen Volk. Dann, in den letzten Oktobertagen, war plötzlich Schluss. Kam die Order von ganz oben, wie viele vermuten, oder waren die Menschen ganz einfach erschöpft?“ (…) weiter in der NZZ vom 21.11.23