Auf der Avenue Habib Bourguiba, dem Prachtsboulevard in der Innenstadt von Tunis, steht am Abend des 13. Januars ein alter, wütender Mann. Er schimpft über Verräter, Feiglinge, Korrupte und Diebe und greift ab und zu auch zu Vergleichen aus dem Tierreich. Fast so wie Muammar Ghadhafi, der im Februar 2011 damit gedroht hatte, seine Gegner wie Ratten aus den Löchern zu holen. So weit geht der ältere Herr mit dem charakteristischen Eierkopf nicht. Doch auch er hat kürzlich von „Säuberungen“ gesprochen, die unausweichlich seien. – Der alte Herr heisst Kais Sayed, er ist Präsident Tunesiens, und er scheint wütend zu sein über sein Volk, dessen „Willen“ er angeblich besser versteht als sonst jemand, und das jetzt so undankbar ist. – Wie lange kann er sich noch halten? Trotz dem Verbot zu demonstrieren haben sich am 14. Januar, am 12. Jahrestag der Revolution Zehntausende auf dem Boulevard eingefunden. Sie fordern seinen sofortigen Rücktritt. Unglaubliche Parallele: Eine noch sehr viel grössere Menschenmenge forderte genau 12 Jahre zuvor den Rücktritt Ben Alis.Wie tragisch… Der Morgen des 16. Januars 2011, also vor genau 12 Jahren, war einer der spannendsten Momente in meinem beruflichen Leben als Journalist. Kaum je zuvor und danach hatte ich so stark das Gefühl, im Auge des Orkans zu sein und an einem weltgeschichtlich herausragenden Ereignis teilzunehmen. Der Taxifahrer hatte neben sich eine Machete liegen, und kaum im Hotel angekommen, wurden wir von Scharfschützen gewarnt, die auf den Dächern der umliegenden Gebäude stationiert seien. Helikopter kreisten unablässig über den Dächern des Stadtzentrums, und ab und zu waren Schüsse zu hören. Tags darauf dann eine unglaubliche Euphorie in der Bevölkerung auf den Strassen, wie ich sie zuvor und danach nie mehr erlebt habe.