Rückblick

Vor genau fünf Jahren habe ich das erste Kapitel meines Buchs: «Maghreb, Migration und Mittelmeer. Die Flüchtlingsbewegung als Schicksalsfrage für Europa und Nordafrika» geschrieben. Seither ist viel passiert. Dennoch scheint mir das Buch aktueller denn je, und abgesehen von ein paar wenigen Details, die in einer dritten Auflage aktualisiert werden müssen, hat der Text der Verwitterung gut widerstehen können. Mehr noch: Vieles von meinen Prognosen hinsichtlich grosser Migrationsbewegungen aus dem Maghreb hat sich bewahrheitet. Das gibt mir als Autor eine gewisse Genugtuung – und die nötige Motivation, um mit einem weiteren, seit langem geplanten Buch zu beginnen. Mein Verlag hat mir dazu vor wenigen Tagen das Startsignal gegeben.
Hier ein Auszug aus dem Vorwort:
«Angesichts des nach wie vor sehr hohen Migrationsdrucks sowohl im Maghreb als auch in den Ländern südlich der Sahara hat Europa in den kommenden Jahren oder gar Jahrzehnten wohl keine andere Möglichkeit, als irreguläre Immigration aus dem Maghreb und über den Maghreb so gut wie möglich einzudämmen. Gleichzeitig werden die europäischen Staaten – allen voran Deutschland – nicht umhin können, mit den Maghrebstaaten griffige Rücknahmeabkommen abzuschliessen und Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern und anderen geduldeten Migranten aus dem Maghreb vorzunehmen. Solche Abschiebungen werden auch deshalb unumgänglich sein, weil sich nur so glaubwürdig vermitteln lässt, dass die irreguläre Migration in Europa nicht (mehr) geduldet wird und dass sie sich für die Anwärter nicht mehr lohnt.
Doch Europa muss den Maghrebstaaten, muss den Millionen von jungen Menschen, die mit Bewunderung in Richtung Norden blicken, und sei es nur wegen des Lebensstils und des relativen Wohlstands, auch etwas anbieten. Dies ist von grösster Bedeutung für die Zukunft. Schon jetzt wenden sich viele junge Maghrebiner desillusioniert von Europa, dem vermeintlichen Hort der Menschenrechte und der individuellen Freiheiten, ab. Andere, autoritäre oder explizit islamische Modelle bieten sich an.
So ist es unumgänglich, für die maghrebinische Jugend neue Fenster in Richtung Europa zu öffnen und legale Formen der Migration zuzulassen. Konkret heisst das: mehr Visa für Studienzwecke und für Praktika, für Studentenaustausch und für kulturelle Begegnungen. Des Weiteren sind Formen der zirkulären Migration voranzutreiben, bei der die Betroffenen ein paar Jahre in Europa verbringen können, dann aber in ihre Herkunftsländer zurückkehren müssen. Und schliesslich sollte auch darüber diskutiert werden, ob Europa den Maghrebstaaten in Zukunft nicht Kontingente für Arbeitsvisa anbieten kann.
Vor allem aber muss sich Europa im Maghreb wirtschaftlich deutlich stärker engagieren. Es muss alles daran gesetzt werden, dass der Norden Afrikas ein Ort wird, an dem die Menschen gut und würdig leben können. Alle materiellen Voraussetzungen dafür sind im Prinzip vorhanden. Die Barrieren sind weitgehend gesellschaftlicher und mentaler Art: Egoistische, nur ihrem eigenen Interesse verpflichtete Eliten, verkalkte politische Systeme ohne echte Partizipation, eine überbordende Bürokratie sowie ein unzeitgemässes, qualitativ schlechtes Erziehungswesen verhindern eine längst überfällige Entwicklung.
Die Maghrebstaaten sind die direkten Nachbarn Europas im Süden. Sie spielen für den Schutz der europäischen Aussengrenzen eine entscheidende Rolle. Angesichts der demografischen Entwicklung in Afrika, die unmöglich durch die wirtschaftliche Entwicklung aufgefangen werden kann, ist in den kommenden Jahrzehnten auch in den Ländern südlich der Sahara weiterhin von einem sehr hohen Migrationsdruck auszugehen. Wenn die Maghrebstaaten nicht stabil bleiben und ihren Bürgern nicht Lebensbedingungen anbieten können, die minimale Standards garantieren, dann wird der Norden Afrikas zu einem Unruheherd werden, der Europas Zukunft in zweierlei Hinsicht gefährden könnte: Zum einen ist es den Maghrebstaaten unter diesen Umständen nicht mehr möglich, ihre Rolle als Schutzwall am Südrand des Mittelmeers wahrzunehmen. Zum anderen wäre in einem solchen Fall damit zu rechnen, dass im Maghreb selbst grosse Fluchtbewegungen einsetzen. Europas Sicherheit und Stabilität wären damit akut in Gefahr.
Europa muss deshalb ein vitales Interesse an guten, nachbarschaftlichen Beziehungen zu den Maghrebstaaten haben und alles daransetzen, die legitimen Anliegen der schwächeren Nachbarn im Süden auf allen Ebenen zu berücksichtigen. Im Bereich der Migration bedeutet dies den Aufbau von Migrationspartnerschaften, die diesen Namen verdienen.“

https://www.nzz-libro.ch/beat-stauffer-maghreb-migration-und-mittelmeer-978-3-03810-363-9